Optioneer Gerald hat mit den beiden Politolog*innen Birgit Sauer und Ulrich Brand darüber gesprochen, wie Zivilgesellschaft unseren Alltag formt, wie solidarische Politik aussehen kann und ob Zivilgesellschaft Europa weiter zusammenwachsen lässt. Ein Interview in zwei Teilen.

opt2o: Wir bei Option 2.0 haben uns Anfang letzten Jahres selbst die Frage gestellt, wie wir eigentlich Zivilgesellschaft definieren. Dabei haben wir festgestellt, dass es gar nicht so leicht ist den Begriff klar abzugrenzen. Wie ist Zivilgesellschaft denn in der Forschung definiert? Wer gehört zur Zivilgesellschaft, wer nicht? Und wo steht diese im Verhältnis zu Staat und Wirtschaft?

Sauer: Wir beide stehen im Prinzip dafür zu sagen, dass der Begriff Zivilgesellschaft in Bezug auf Staatlichkeit durchaus kritisch sein kann, und dass immer hinterfragt werden soll, ob Zivilgesellschaft abgrenzbar ist. Ihr Verein wird Grenzen ziehen wollen und einen positiven, exklusiven Begriff von Zivilgesellschaft haben. In der wissenschaftlichen Diskussion gibt es mindestens zwei Begriffe der Zivilgesellschaft: Bei Habermas ist der Begriff ein positiver, da ist alles politische und herrschaftsfreie Handeln in Bezug auf Demokratie Teil von Zivilgesellschaft. Da fällt zum Beispiel PEGIDA heraus. Die eröffnen zwar einen politischen Kommunikationsraum jenseits des Staates, man würde ihn aber nicht als herrschaftsfrei begreifen.

Der zweite Begriff ist jener von Antonio Gramsci: Hier ist Zivilgesellschaft generell jener Raum, in dem gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Kämpfe ausgetragen werden. Die Frage hierbei ist, was da an Demokratischem, an Emanzipativem entsteht.

Brand: Der Begriff von Habermas ist sehr stark, weil er strategisch verwendet wird. Wenn NGOs sagen „Wir sind Zivilgesellschaft“, haben sie ein kritisches Verständnis, sie schauen den Herrschenden sozusagen auf die Finger, und zwar mit rationalen, besseren, vielleicht emanzipatorischen Argumenten. In diesem Fall ist etwa die Kronen Zeitung nicht Teil der Zivilgesellschaft. In der kritischen Debatte bei Antonio Gramsci ist Zivilgesellschaft ein Ort, in dem und mit dem um Hegemonie gerungen wird. Hegemonie heißt hier, wie gesellschaftliche Konsense geschaffen werden. Heute sind diese eher rassistisch und exkludierend – man merkt das in der Flüchtlingsdebatte ganz deutlich. Diese Hegemonien muss man aus einer kritischen Perspektive unbedingt in den Blick nehmen.

Außerdem – und das ist in der kritischen Diskussion durchaus umstritten – gehört das Ökonomische, die materielle Reproduktion, zur Zivilgesellschaft. Zuallererst sind es ideologische Kämpfe um Selbstverständlichkeiten: Wo gibt es Klärungsprozesse in der Gesellschaft, die nicht rassistisch sind, sondern emanzipatorisch, ökologisch, feministisch, was auch immer; hier sind Sie auch mit Akteur. Dann stellt sich immer die Frage, was denn akzeptierte hegemoniale Lebensweisen sind? Das sind manchmal Praktiken, die gar nicht offen verhandelt werden, etwa dass es gut ist, wenn ich ein gutes Einkommen habe und mehr konsumieren kann. Da geht es um die eigenen Lebensverhältnisse: Wenn ich meinen Job nicht verliere und ich mich nicht bedroht fühle habe ich ein anderes Verhältnis zu den Flüchtlingen, ob ich sie kenne oder nicht –  siehe all die abstiegsbedrohten Männer in den USA, die für Trump schreien. Die ökonomische Sphäre ist eine Sphäre von gesellschaftlicher Arbeitsteilung, von Geschlechter- und Klassenverhältnissen, darum geht es in der Gramscianischen Diskussion. Hier Alternativen zu formulieren ist viel schwieriger.

opt2o: Jetzt haben Sie nun schon einen Begriff verwendet, an den ich auch anknüpfen wollte – jenen der Solidarität. Frau Sauer, einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist Politik und Emotionen. Hat der Sozialstaat ein solidarisches Element inne, und hat sich dieses heutzutage auf die zivilgesellschaftliche Ebene verschoben?

Sauer: Wenn man sich den Sozialstaat in seiner Entstehung ansieht, war er immer ambivalent. Gerade im deutschsprachigen Raum mit seiner starken Staatstradition hat er eine integrative Funktion gehabt, da er von der Arbeiterbewegung erkämpft war, teilweise auch von den Arbeiterinnen.  Die Entwicklung unter Bismarck macht aber deutlich, dass er nicht nur integrieren, sondern auch disziplinieren soll. Die daraus entstandene Solidarität war aber erstmal exklusiv, denn Frauen waren aus dieser Solidarität ausgeschlossen oder etwa bei der Sozialversicherung nur über ihre Ehemänner inkludiert. Insofern ist sozialstaatliche Solidarität ein Ausdruck solcher Kämpfe, in denen bestimmte Konflikte entweder nicht thematisiert oder durch Ausschluss gelöst wurden. Rechte, die sich aus Arbeit ergeben, sind der Versuch, Solidarität und solidarisches Handeln bis zu einem gewissen Grad zu ermöglichen.

Es gibt in der feministischen Diskussion oder in der linken eine aufkeimende Diskussion um Solidarität und vor allem um Identität. Hier geht es um Zugehörigkeit, also Überlegungen, die versuchen, gegen ausschließende Politiken oder Strategien etwas zu unternehmen. Da stellt sich die Frage, welche Rolle Emotionen hier spielen. Ich bin der Meinung, dass man auf der einen Seite spaltende, trennende Politiken machen und diese dann auf der anderen Seite mit Emotionalität wieder auffangen kann. Wir haben ein Projekt über Arbeitsmarktpolitik gemacht, wo man schon erkennen kann, dass es immer weniger Möglichkeiten gibt, Menschen zu guten Bedingungen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Also sollen sie emotional aktiviert werden. Diese Aktivierungspolitik ist individualisierend, hat also überhaupt keine sozialstaatliche Funktion. Hier ersetzt affektives Empowerment sozialstaatliche Politik, etwa eine solidarische Umverteilung von Arbeit. Sieht man sich die Arbeitsmärkte und Arbeitsverhältnisse an, wird klar: Es braucht eine fundamental neue Arbeitszeitpolitik, um Ressourcen solidarisch verteilen zu können. Und es braucht eine ganz andere Vorstellung davon, was nützliche Arbeit ist.

Brand: Ich halte es für wichtig, aus einer gesellschaftlichen Perspektive zu erkennen, dass es Formen der verpflichtenden Solidarität gibt. Der Sozialstaat ist verpflichtend, keiner würde so viele Steuern zahlen, wenn er nicht müsste. Das ist interpersonale Solidarität, das meint man meistens, wenn man gemeinhin spricht. Gesellschaft braucht akzeptierte Regeln, die aber selbst Ausdruck von Kämpfen und Erfahrung sind. Das ist eben nicht nur die nette, solidarische Geste. In der Regel wird Solidarität heute direkt geübt, auf einer familiären oder freundschaftlichen Ebene, denn auf einer gesellschaftlichen Ebene kann man es kaum üben.

Ein Punkt, über den ich sehr viel nachdenke, ist die Frage nach der internationalen Solidarität. Da gab es immer diese Praxis des Konstatierens einer Solidarität mit bestimmten Befreiungsbewegungen. Aber was heißt das? Was heißt es, wenn wir unter Globalisierungsbedingungen eine solidarische Gesellschaft, eine solidarische Produktions- und Lebensweise wollen? Wenn wir permanent auf billige Arbeitskraft und billige Ressourcen zurückgreifen ist das mit vielen Menschen woanders auf der Welt strukturell unsolidarisch. Hier muss etwas umgebaut werden.

Wie wir das schaffen? Da wird kein Staat, kein Regulator reichen, denn das ist noch Neuland. Wir müssen anders darüber nachdenken, was die Bedingungen eines solidarischen Lebens sind. Da geht es um Suffizienz, also um die Frage: Was ist genug? Das hat hochgradig viel mit Solidarität zu tun. Uta von Winterfeld vom Wuppertal Institut hat einen guten Satz zur Suffizienzdebatte gesagt: “Suffizienz bedeutet, nicht mehr haben zu müssen.” Natürlich muss man sich entscheiden, wie man lebt und sich fortbewegt, was man isst und so weiter. Aber was sind die Bedingungen, dass man aus dieser wachstumsgetriebenen Form der strukturellen Unsolidarität rauskommt? Das sind Schienen, wo wir systematisch weiterdenken müssen, hier haben wir erst in Ansätzen das Problem auf internationaler Ebene begriffen.

Sauer: Heute früh habe ich in den Nachrichten gehört, dass jemand vorgeschlagen hat, Fleisch aus umweltpolitischen Gründen ganz hoch zu besteuern. Das wäre völlig logisch und würde funktionieren, es wäre ein Beitrag zur Solidarität. Gleichzeitig stellt sich aber die Frage, wie solch ein staatlicher Eingriff überhaupt zu vermitteln ist? Ist so etwas überhaupt möglich ohne dass es momentan einen Aufschrei gibt, der zu weiterer Entsolidarisierung führt?

Brand: Man muss sich die Frage stellen, wie umkämpft der Begriff ist. Ich hatte auf dem letzten Katholikentag in Leipzig eine Podiumsdiskussion zu Wachstum und Wachstumskritik mit Peter Altmaier, dem deutschen Kanzleramtsminister, und anderen. Ich habe da gesagt, wenn wir strukturell solidarisch sein wollen, müssen wir so etwas wie Fleischfabriken verbieten, auch wenn das Fleisch dann teurer wird. Dann hat er aber gesagt, dann wäre er solidarisch mit der alten Frau, die sich ihre drei Schnitzel in der Woche leisten will. Ich habe gesagt, ich will Fleischfabriken verbieten, ich will der Frau nichts verbieten. Genau das ist diese Umkämpftheit des Begriffs.

opt2o: Die letzten Jahre waren für die Europäische Union keine leichten – ganz aktuelles Beispiel dafür ist der Brexit –  das schlägt sich auch im Bewusstsein der Menschen wieder. Viele sehen die EU als etwas Fremdes an, das ihnen von oben herab Lebensweisen aufzwingt. Yanis Varoufakis zum Beispiel setzt sich mit DiEM25 für eine Demokratisierung der EU ein. Denken Sie, dass solche zivilgesellschaftliche Initiativen ein europäisches Bewusstsein fördern können, sollte es dieses überhaupt geben?

Sauer: Die Diskussion um das europäische Bewusstsein ist immer schwierig, ich würde aber nicht sagen, dass es das nicht gibt. Es empfinden sich viele schon als Europäerinnen und Europäer, das ist etwa durch reisen und studieren im Austausch entstanden. Es gibt aber viele Kräfte, die versuchen, das zu unterminieren. Die Regierungen sind ja selber daran beteiligt, die Rechten sowieso, die wollen eine Renationalisierung. Die EU selber hat sich in eine autoritäre Richtung entwickelt – ich verstehe deshalb auch die Ablehnung der rechten Parteien. Hier könnte eine zivilgesellschaftliche Debatte helfen, denn ich sehe zivilgesellschaftliche Akteure im Moment als diejenigen, die die Aufgabe haben, das deutlich zu machen. Wenn jetzt plötzlich alle vom Brexit oder Öxit reden, dann kann da eine zivilgesellschaftliche Gruppierung womöglich ein anderes Bild schaffen. Aber das ist schwer, denn das ist eine Frage der Ressourcen in mehrerer Hinsicht. Insofern ist auch diese Vorstellung von europäischer Identität und dem Zusammenwachsen immer umkämpft.

Brand: Also ich glaube man muss unterscheiden zwischen politischer Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. Erstere ist fragmentiert, das fängt mit der Sprache an, und es gibt wenige Informationen über andere Länder. Le Monde Diplomatique versucht schon seit Jahren, so etwas herzustellen, was aber schwierig ist. Dann muss man sich die Frage stellen: Welches europäische Bewusstsein? Auf der Ebene der Alltagserfahrungen, bei Studierenden, bei Ihrer Generation ist das schon selbstverständlich dass man sich mit Englisch durchschlagen kann und sich auf andere Lebensverhältnisse einstellt. Aber ich würde auch sagen das europäische Bewusstsein ist ein Imperiales. Nach außen hin sowieso, ob jetzt gegen die USA in der Debatte um Trump oder gegen China, da sind wir etwas Besseres. Aber auch wenn man sich anschaut wie die Eliten der EU vor eineinhalb Jahren mit Griechenland umgegangen sind, war das imperial. Wie Schulz am Abend in den Tagesthemen mit dem Mittelfinger zeigt, „so geht es nicht ihr lieben Griechen“. Also ich würde sagen das ist ein vorgegebenes europäisches Bewusstsein, ein Elitenorientiertes.

Und die Frage wäre – und deshalb ist ja DiEM25 interessant – schaffen die es, Gegenakzente zu setzen? Wir haben das 2015 lange diskutiert: Varoufakis und Tsipras hätten da wirklich einen Unterschied machen können, wenn sie gesagt hätten „Wir, in Amt und Würden, mit aller Hoffnung in Europa, wir fahren jetzt nicht in die Hauptstädte, um Kredite zu verhandeln, sondern um Zivilgesellschaft mit zu organisieren. Wir kommen als organische Intellektuelle eines alternativen Projektes nach Berlin und sprechen da vor hunderttausend Leuten.” Und da wären hunderttausende Menschen zusammengekommen! Die haben das gar nicht klar gehabt, dass wenn sich so ein Projekt stabilisieren soll, das von unten kommen muss. Jetzt machen sie DiEM25 wieder auf der alten programmatischen Ebene: „Wir haben die Wahrheit im Programm“. In dem historischen Fenster von vier Monaten, von Februar bis Juni 2015, da ist was verpasst worden. Wenn das an die konkreten politischen Verhältnisse rückgebunden wird, statt an eine abstrakte Zivilgesellschaft á la „Wir in Europa“, da stellt sich dann was her.

Der nächste Teil des Interviews handelt unter anderem davon, welche Bedeutung soziale Medien für Protestbewegungen haben, ab wann diese von Erfolg sprechen können und davon, ob wir eine Alternative zum Kapitalismus brauchen.