Optioneer Gerald hat mit den beiden Politolog*innen Birgit Sauer und Ulrich Brand darüber gesprochen, welche Bedeutung soziale Medien für Protestbewegungen haben, ab wann diese von Erfolg sprechen können und davon, ob wir eine Alternative zum Kapitalismus brauchen. Teil eins des Interviews findet ihr hier.

opt2o: Protestbewegungen wie Nuit Debout, Occupy oder Ende Gelände, die beispielsweise letztes Jahr in der Lausnitz gegen die Kohlekraftwerke protestiert haben, können ja nicht immer von Erfolg sprechen. Wie wirksam sind solche Aktionen heute in unserer komplexen, globalisierten Gesellschaft denn noch? Und ab wann kann man sagen sind solche Protestbewegungen erfolgreich?

Sauer: Ob solche Bewegungen erfolgreich sind, kann man vorher nie sagen. Denken Sie an die Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts in Polen. Ich hätte nie gedacht, dass sich da irgendwas tut, und ich kenne einige dieser Frauen – die organisieren jährlich solche Frauenmärsche. Sie sagen, das wird immer nur schlimmer, aber plötzlich funktioniert da was! Plötzlich marschiert diese rechte Regierung nicht mehr so durch. Das hat so niemand voraussehen können, denn das hängt von ganz vielen Konstellationen ab. Wenn man sich Uni Brennt ansieht, kann man sagen dass das eigentlich erfolglos war, denn es hat sich an den Universitäten nichts verändert. Da wurde viel diskutiert, aber die Studienbedingungen haben sich keinen Deut verbessert; das Studium ist immer disziplinierter, alles orientiert sich nur noch an ECTS – das ist vollkommen verrückt. Ich kenne aber Leute, die da dabei waren und sagen, dass das wahnsinnig wichtig war, denn es hat eine Generation von Studierenden geprägt und sie politisiert. Es ist ja auch eine Form von Protest, da gemeinsam etwas zu organisieren, auf der Uni zusammen zu übernachten und den Alltag für eine Weile zu gestalten; das ist extrem prägend. Klar, der Frust, wenn das ohne Erfolg bleibt, prägt auch sehr. Ich persönlich bin unter anderem ganz stark in der Anti-AKW-Bewegung der Siebziger Jahre politisiert worden. Vorerst hat sich da überhaupt nichts getan, alles hat ewig lange gedauert, aber am Ende hat sich der lange Atem ausgezahlt.

Auf alle Fälle muss man bei solchen Protestbewegungen auch die Binnenwirkung, die Erfolge nach innen, betrachten: Ob und wie neue Akteure daraus entstehen. Ich denke dass Sensibilisierung der Öffentlichkeit auch ein Erfolg ist, selbst wenn daraus keine konkrete Policy folgt.

Brand: Ich schließe mich da an, man sollte aber in diesen unübersichtlichen Zeiten eine Unterscheidung einführen zwischen einer Erhebung wie Nuit Debout und Occupy – das sind Erhebungen, wo man vorher gar nicht ahnt dass das rockt. Sowas ist erstmal unstrukturiert, dort sind sich anfangs alle unsicher was sie eigentlich tun. Ende Gelände ist zum Beispiel eine lange organisierte Kampagne in der Tradition der Anti-AKW Bewegung – welche ich bis heute bewundere –  die wussten, dass sie auf die Mütze kriegen, und sie wussten, dass sie einen langen Atem brauchen, um das Thema Kohle in Deutschland auf der Tagesordnung zu halten. Es gab 2009 den Regierungswechsel in Deutschland hin zur rechten Regierung, und nach ein paar Wochen sagt Merkel, dass sie das Atomausstiegsgesetz zurücknehmen. Trotzdem wurde im Herbst 2010 im Wendland weiter protestiert und die bekamen ziemlich auf die Mütze. Doch dann war Fukushima und die Antwort darauf waren wieder massenhafte Proteste. Sowas ist einfach nicht vorhersehbar.

In meiner politischen Generation der Neunziger Jahre sagten sich viele Leute, sie wollen professionell arbeiten, da fand so etwas wie eine „NGOisierung“ statt. Ich sehe das ambivalent, also nicht an sich für schlecht. NGOs wie Avaaz oder Campact machen in Fachbereichen wie Frauenpolitik oder Anti-Gentechnik mit viel Wissen Politik, und zwar auch mit dem Renommee von Zivilgesellschaft. Und dann gibt es so etwas wie die so genannten “Ostermärsche” mit einem kleinen Kern aus Überzeugten, die trotz ausbleibendem Erfolg daran festhalten, da entsteht purer Frust. Sie gehen dennoch immer wieder auf die Straße und schaffen dadurch eine historische Erfahrung, wir nennen das Bewegungsinfrastruktur. Die hat mit Erfahrung, Wissen und Medienzugängen zu tun.  Doch dann passiert da etwas wie in Polen, plötzlich sind das dreißigtausend oder hunderttausend Leute. Dann verbindet sich so etwas wie Kampagne und Erhebung.

Wenn wir von Bewegungen sprechen, sprechen wir immer nur über das empirisch fassbare. Ich finde es spannend, dass gerade in unseren Forschungsbereichen, also bei sozial-ökologischen und feministischen Themen, viel gesellschaftliche Veränderung über die Umorientierung im Alltag stattfindet. Da geht es hauptsächlich darum, Geschlechterverhältnisse oder Reproduktionsweisen anders zu leben, da sollten wir viel stärker darauf achten. Auch hier muss wieder gefragt werden, wie sich neue Selbstverständlichkeiten oder Lebensweisen herausarbeiten – da haben Affekte viel mehr Gewicht als Kognition. Ist es hip, nicht immer neue Klamotten oder ein komplett recyclingfähiges Handy zu haben? Zurzeit ist es das noch nicht, obwohl es schon los geht – mit dem Fairphone zum Beispiel. Wann wird es hip, in Wien Fahrrad zu fahren, so wie es das in Kopenhagen ist? Dort kann es pissen soviel es will, die Leute fahren trotzdem stolz mit dem Fahrrad. Das sind kulturelle Veränderungen, die wir bei dem Blick auf solche Bewegungen oft unterschätzen; hier macht es die Verbindung.

opt2o: Bilder von Protesten gehen dank der sozialen Medien heute in Echtzeit rund um die Welt. Hat das Internet die Macht, Akteure der Zivilgesellschaft zu stärken? Und welche Rolle spielen Plattformen wie Avaaz für den potenziellen Erfolg von Protestbewegungen?

Sauer: Das ist schwer zu sagen. Ich habe in meiner Forschung bislang sozusagen immer nur die dunkle Seite der Zivilgesellschaft untersucht, also was eigentlich die Rechten im Internet machen. Diese Parteien und Bewegungen nutzen das viel intensiver als andere, hauptsächlich um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Vor allem aber, weil sie keinen Widerspruch bekommen. Da entstehen Echokammern, wo nur alles widerhallt was man sowieso kennt, und das wird weiter verbreitet. Da geht die Forschung so weit zu sagen, die Rechten machen das weil sie genau wissen, dass da ein Raum entsteht, den sie steuern können.

Wenn man das jetzt umlegen würde, könnte man sagen das ist ein Instrument, aber das müsste man spezifisch untersuchen. Es lässt sich historisch beobachten, dass neue Technologien die Menschen mobilisieren können. Aber es muss immer ein Kontinuum zwischen offline und online geben. Nur online funktionieren zivilgesellschaftliche Kämpfe nicht, es muss offline auch etwas geschehen.

Brand: Ich mache zwar keine Forschung zum Internet, ich habe da aber einige Gedanken dazu: Das Internet ist erstmal ein Raum, in dem Selbstverständlichkeiten geschaffen werden, sozusagen ein Medium für Hegemoniebildung. So toll ich Avaaz und Campact auch finde, dort gibt es aber immer einen Selbst-Hype. Denen folgen dann ein oder zwei Millionen Menschen, aber da wird wenig reflektiert. Es geht nun mal darum, wie Selbstverständlichkeiten geschaffen werden, und hier haben wir eben das Problem mit den Echokammern. Wir müssen das Internet wie alle anderen Technologien relational sehen. Wenn wir von der Politik der Kräfteverhältnisse ausgehen müssen wir sehen, dass es immer Kontingenzen, Gegenseiten und Grautöne gibt. Was trägt das Internet überhaupt dazu bei, dass bestimmte Kräfte sich artikulieren können? Beim arabischen Frühling war das offensichtlich, da war das ein wichtiges Instrument, sich zu politisieren. Außerdem ist die Frage wichtig: Was sind Momente der Politisierung, und wo wird diese zur Handlungsfähigkeit?

Wir hatten am Montag eine Debatte über die Kommentare im Standard, die ich mittlerweile nicht mehr lese wenn ich etwas publiziert habe. Da sagte jemand, wenn man systematisch sechs oder sieben positive Kommentare hat, kippt man die Debatte. Das finde ich wirklich spannend, es gibt offensichtlich Stimmungen im Internet. Man schließt sich schnell wo an, wenn die derselben Meinung sind wie man selbst. Natürlich gibt es die Hardliner, die nicht heruntersteigen von ihrer Meinung, aber ich finde es schon eine strategisch ganz wichtige Überlegung.

opt2o: Es gibt viele Unternehmen im Bereich des Social Entrepeneurships, die gewisse Werte vertreten und darauf ein Geschäft aufbauen. Denken Sie dass solche Modelle Auswirkungen auf das kapitalistische Wirtschaftssystem haben, oder braucht es eine generelle Alternative zum Kapitalismus?

Sauer (lacht): Unbedingt! Gestern haben wir Paul Mason diskutiert, der nicht sagt, es braucht eine Alternative zum Kapitalismus, sondern dass der Kapitalismus am Ende ist, er sich erschöpft hat. Es gibt schon andere ökonomische Modelle, wie das der Commons oder des Gemeinwohls. Diese sind für ihn positive Utopien, die aber zum Teil schon existieren. Es sind ja schon Menschen tätig, die anderen helfen und das in ihren Alltag integrieren.

Brand: In der Transformations- und Transitionsdebatte gibt es den Nischenbegriff. Auch hier geht es wieder um die Frage: Was ist hip? Das ist auch eine generationelle Frage, in meiner Generation war es hip, professionelle Politik zu machen. Das gibt es nach wie vor zur Genüge, aber heute gibt es eben diese vielen sozialen Unternehmen. Hier besteht die Gefahr der Kommerzialisierung, dass sie aufgekauft werden – das passiert in der Startup Szene mit dem „Seed-Money“ häufig. Die andere Frage ist die der Arbeitsbedingungen: Ist es wirklich eine so tolle Idee, oder beuten sich die Menschen letztlich gegenseitig aus, wie es etwa bei Uber der Fall ist. Die dritte Frage ist: Wenn es eine gesellschaftliche Alternative geben sollte, was sind dort die Selbstverständlichkeiten und Regeln?

Ich komme aus der Zapatista-Bewegung der Neunziger in Südmexiko, wo unter brutalsten Bedingungen Kaffee produziert wurde und wird. Da haben wir in Hamburg und Frankfurt alternative, solidarische Produktions- und Vertriebsweisen gefördert – das was in den Achtzigern die Sandino-Dröhnung aus Nicaragua war, war bei uns der Zapatista-Kaffee. Das war die Nische, so erreichten wir die Leute. Auch bei Hofer, Billa und Spar kriegt man heute den fairen und ökologischen Kaffee, aber wenn wir eine andere Gesellschaft wollen, müssen wir uns fragen: Wie schaffen wir es, dass kein ökologisch und sozial unverträglicher Kaffee mehr produziert werden darf und es damit keine Ausbeutung mehr gibt? Das würde ich nicht den Social Entrepeneurs auferlegen, das wäre zu viel für ihre Schultern. Die Perspektive müsste sein, dass bestimmte Formen gesellschaftlich einfach nicht mehr gehen. Das ist ein anderes Ausmaß von Kämpfen, wo wir die Nischen ebenso wie Umwelt- und Sozialstandards und Verbote in anderen Ländern brauchen. Auch Dole hat inzwischen Ökobananen, aber das ist nur fürs greenwashing, der Rest wird unter brutalsten Bedingungen hergestellt. Da wird es dann knifflig.

Mein letzter Punkt: Social Entrepeneurs gehen in die konsumnahen Bereiche, wo man die Menschen im Alltag erreicht, die sind relativ Investitionsschwach. Jetzt gehen wir mal in die gesellschaftlichen Knallbereiche: Wie kommen wir zum Beispiel aus der Automobilität raus? Da geht es dann ans Eingemachte – um Investitionen, lange Planung, Ausbildungswege, Kompetenzen, Macht und gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten. Wie könnte Social Entrepeneurship auf dieser Ebene aussehen?

opt2o: Denken Sie, dass der Übergang zu einer gerechteren Gesellschaft ein fließender ist, oder muss es eine Revolution geben?

Sauer: Ich glaube es muss Brüche geben. Ich würde es nicht Revolution nennen, aber es muss ganz klar Brüche geben. Diese haben wir jetzt eigentlich auch immer schon gehabt, denn in vielen Lebensbereichen gibt es diese kleinen Bruchlinien bereits, das kann man schon sehen.

Brand: Ich glaube auch dass es solche Brüche braucht, so etwas wie Reform oder revolutionäre Realpolitik nach Rosa Luxemburg. Neben diesen Brüchen braucht es aber auch einen Horizont. Was uns fehlt, und das macht Paul Mason so wichtig, ist der Glaube an etwas Besseres! Was mich in der sozial-ökologischen Debatte so nervt ist, dass die so tun, als würde mit der deutschen Energiewende schon alles getan sein. Was wir aber zurzeit machen müssen ist, erstmal den Autoritarismus zu verhindern. Teil der Alternativen und von Brüchen ist erstmal, heute schlimmeres zu verhindern, und genau das als Teil dieser Kämpfe um etwas  besseres zu sehen; das ist gerade aber sehr gebrochen. Da gibt es diese defensive Flüchtlingsbewegung einerseits, die sich um die Frage dreht, wie wir das hinkriegen. Andererseits gibt es den Rechtsextremismus, wo die Gewalterfahrung immer weiter zunimmt, da sind wir wie der Hase vor der Schlange. Und dann gibt es diese völlig gehypte sozial-ökologische Debatte, wo ich den Sozial-Ökologen immer wieder ans Knie haue und sage: „Spinnt ihr?! Ihr nehmt die Gesellschaft gar nicht in ihrer Gesamtkonstellation wahr!“ Eine gesellschaftliche Veränderung ist nicht nur eine sozial-ökologische, da gibt es noch viel Arbeit zu leisten.

Sauer: Das haben wir auch gestern diskutiert, dass Mason einfach auch versucht, eine Vision herzustellen und zu sagen: „Leute, es geht! Der Kapitalismus kann verschwinden!“ Es gibt in der feministischen Diskussion Drucilla Cornell und Stephen D. Seely, die mit ihrem Buch “The Spirit of Revolution” – sie nennen das noch Revolution – versuchen, Marxismus und Feminismus zu verknüpfen. Sie sagen, dass die Vorstellung, nur die Produktionsverhältnisse zu revolutionieren, gar nicht funktioniert. Wir müssen uns nur trauen, zu denken, dass etwas anderes möglich ist – genau das ist dieser Spirit. Zum Mensch der kapitalistischen Moderne gehört, dass es diese Utopie, diesen Horizont nicht geben kann. Das ist Teil der kapitalistischen Vergesellschaftung. Wenn man anfängt, das einmal bewusst zu sagen, gilt man schnell als Esoterikerin. Aber es ist wichtig, sich genau zu überlegen, wo diese Wege raus sind. Und wenn wir sie nicht denken, passieren sie nicht.

opt2o: Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für Ihre Zeit!